Wenn Berge sich türmen
Drei Jahre ausgeschrieben und endlich konnten wir die Tour angehen. Von den Angemeldeten verblieben vier. Die anderen fielen verletzungshalber oder wegen Terminkollision aus. Leider hat es auch Diana erwischt. Sie hat als einzige die Lenzspitze mit Überschreitung zum Nadelhorn bereits gemacht. Somit betraten wir vier Neuland im Bewusstsein, dass diese Tour nicht einfach sein wird, nur unter optimalen Voraussetzungen gestartet werden sollte, viel Kondition verlangt, Seilhandhabung und Klettertechnik stimmen müssen und es von Vorteil wäre, an die Höhe angepasst zu sein. Hier schon mal ein Dankeschön an Diana Zurbriggen und Roberto Arnold, welche uns vorab mit Tipps und Tricks versorgt haben.
Nach einer eingehenden Wetterstudie haben wir uns entschlossen die Tour anzugehen. Wir mussten am Gipfeltag mit Niederschlägen am Nachmittag rechnen. Diese sollten uns aber nicht stören, da wir gemäss Planung dann in der Mischabelhütte sein sollten. Somit starteten wir am Mittwoch um 10.00 Uhr in Saas-Fee. Wir führen mit der Seilbahn zur Hannig. Francine und Alessandro haben intuitiv eine einfache Fahrt gelöst. Ob sie bereits geahnt haben, dass dies eine weise Entscheidung war?
Der Weg zur Mischabelhütte ist interessant und abwechslungsreich. Im klettersteigartigen Gelände haben wir bereits an unserer Klettertechnik gefeilt und sind mehr oder weniger bewusst vom Weg abgekommen, um ohne Sicherungen und Hilfen den Grat hochzukommen. Unterwegs hat mir Vedrana erzählt, dass für sie die Lenzspitze die einzige Frau unter den Bergen sei. So ganz schlau wurde ich aus dieser Aussage nicht und ich habe ihr erklärt, dass es zwar schon «die» Lenzspitze heisse, wir sie im Saastal aber «der» Südlenz nennen. Und es gäbe doch sicher auch noch andere Berge, die im Namen eine «Spitze» enthalten und somit auch weiblich wären. Vedrana bezog sich aber nicht auf «die» Spitze. Sie meinte trocken, die Lenzspitze habe so viele Ecken und Kanten, dass es sich bei ihr nur um eine Frau handeln könne. Ab und zu ist es besser zu schweigen und ich dachte mir, so unrecht hat sie nicht.
Früh am Nachmittag sind wir bei der Mischabelhütte angekommen. Wir sind von Maria begrüsst worden und haben uns sogleich verpflegt und anschliessend aufs Ohr gelegt. Jede Stunde Schlaf oder Ruhe war willkommen. Wir wollten ja am Morgen um 02.30 Uhr aufstehen und dann losmarschieren. Nach der Siesta haben wir uns aufgerafft und die Tour vom nächsten Tag geplant. Wir sind gedanklich noch einmal die Schlüsselstellen durchgegangen und haben die Topos studiert. Das Nachtessen war vorzüglich. Gegessen haben wir für drei (dreimal Suppe, dreimal Hauptgang, «nur» einmal Dessert). Mein Magen war so voll, dass ich im Anschluss nicht zum Schlafen kam. Somit war für mich gediegen liegen angesagt. Im Nachhinein war diese Völlerei das einzig richtige.
Am nächsten Morgen, pünktlich um 03.00 Uhr, machten wir uns auf den Weg. Die Nacht war klar und es war windstill. Zuerst ging‘s hoch auf das Plateau des Hohbalmgletscher und weiter über den südlichen Grat bis zum Punkt 3814. Dort seilten wir uns an und kletterten am kurzen Seil gehend zu einer aufsteigenden Wand, die in den Tourenbeschreibungen echt kühn umschrieben wird. Dank dem Tipp von Roberto hielten wir uns ganz links an der Kante und fanden dort auch die beschriebenen Bohrhacken. Den unteren Teil erkletterten wir noch im Dunkeln und in der Mitte der Wand begann die Dämmerung. Ein wunderschöner Sonnenaufgang empfing uns beim letzten Aufstieg zum Grossen Gendarm. Wie es sich gehört, machten wir am Frühstücksplatz eine kurze Pause. Weiter ging es durch eine angedeutete Verschneidung hinauf auf das Firnfeld, welches unten noch mit Trittschnee versehen, weiter oben aber bereits vereist war. Kurz nach 08.30 Uhr erreichten wir die Lenzspitze.
Wir bestaunten die Aussicht und den vor uns liegenden Grat zum Nadelhorn. Gemäss Topo warteten drei Abseilstellen auf uns. Als wir aufbrachen, bemerkten wir bereits den Wetterumschwung. Wind kam auf und Wolkenfetzen trieben über den Grat. Kurze Zeit später waren wir von Nebel umhüllt und die ersten Schneeflocken fielen vom Himmel. Auf dem Abstieg zum Nadeljoch konnten wir die Türme noch abklettern. Beim Aufstieg änderte sich das. Die Aufschwünge zu den Türmen waren dann bereits nass, aber immer noch mit guten und festen Tritten versehen. Die Abstiege konnten nicht mehr abgeklettert werden. Die Platten waren durch die Nässe zu rutschig. Somit war abseilen angesagt. Nachdem wir über drei Türme abgeseilt waren, wäre eigentlich nach Topo gehen am kurzen Seil angesagt gewesen. Denkste – ein Turm nach dem anderen stellte sich uns in den Weg. Da wir wegen Nebel und Schneefall das Nadelhorn nicht sehen konnten, wussten wir auch nicht, wo wir uns auf dem Grat befanden. Bei jedem erkletterten Aufschwung mussten wir feststellen, dass vor uns wieder eine Abseilstelle war. Und wenn wir unseren Blick zum nächsten Aufschwung richteten, konnten wir ganz oben einen weiteren Bohrhacken erkennen. Also war diese Abseilstelle sicherlich nicht die letzte. Eigentlich wäre die Kletterei auf diesem Grat sehr interessant – bei guten Verhältnissen. Heute wollten wir nur noch sicher auf das Nadelhorn kommen. Geschätzt ein Dutzend Türme mussten wir überwinden, bis wir schlussendlich kurz vor 14.00 Uhr auf dem Nadelhorn ankamen.
Bei der eintönigen Aussicht (Nebel und Schnee) machten wir uns kurz darauf auf den Abstieg zur Mischabelhütte. Leider war durch Schneefall und Wind der gespurte Weg zugemacht und fast nicht erkennbar. Wir starrten auf eine weisse Wand mit weissem Untergrund und konnten den Weg nur erahnen. Somit war Spuren angesagt und ein zügiges Vorankommen nicht möglich. Alessandro musste sich nun eingestehen, dass die geplante Heimreise nach Luzern heute wohl nicht klappen wird. Francine erkannte, dass die letzte Bahn von Hannig nach Saas-Fee wohl ohne uns fahren wird. Zum Glück hatten sie nur eine einfache Fahrt gelöst (wäre es anders gekommen, wenn sie eine Retour-Fahrkarte gekauft hätte?). Um 17.00 Uhr erreichten wir die Mischabelhütte – hungrig und durstig aber froh, dass wir am Vorabend so viel gegessen haben. Ansonsten hätten unsere Vorräte nicht ausgereicht. Kurz vor 18.00 Uhr verabschiedeten wir uns von Maria (gestärkt mit Kuchen) und liefen im Regen hinunter nach Saas-Fee, auf den nassen Steinen haben wir nun ja gelernt zu laufen.
Um 20.00 Uhr nach 17 Stunden laufen, klettern, abseilen, waten und spuren trafen wir in Saas-Fee ein. Glücklich und froh, aber auch zufrieden, dass wir diese Tour trotz den Wetterverhältnissen sicher gemeistert haben.