Ich wollte hoch hinaufsteigen um tief in mich hinabzusehen! (R. Messner)
Unser ursprüngliches Ziel in den Waadtländer Alpen ist total verregnet worden. Der vorhandene Schnee ist buchstäblich dahingeschmolzen. Also hiess es umdisponieren.
Das Mattmarkgebiet erhielt schon im Oktober reichlich Schnee. Zudem haben Alex und ich hier noch eine Route im Auge, welche es jedoch noch zu rekognoszieren gilt. Deshalb entschieden wir uns für diese Region. Im Licht der Stirnlampen ziehen wir am frühen Morgen des 12. Dezembers 2009 Richtung Staudamm, wo wir den Tunneleingang diesmal problemlos finden können. Aber was macht das Wetter? Reisst es – wie von Bucheli versprochen – endlich auf oder wird es gar noch schlechter.
Bei diffusem Licht, zotteln wir Richtung Grünberghoru. Von Westen her wird die Bewölkung immer dichter, es beginnt zu schneien. Unser Ziel, die Rothornlücke versteckt sich hinter dem aufkommenden Nebel, es wird empfindlich kalt. Niemand von uns ist wirklich „scharf“ darauf, am „Tagesbefehl“ festzuhalten. Bei der Einfahrt „Hangund Gletscher“ breche ich deshalb die Übung ab. Aber für mich ist dieser Tourentag noch lange nicht zu Ende.
Bei der Abfahrt lassen wir uns nämlich von der mystischen Stimmung, vom Wechselspiel von Sonne, Nebel, Schneefall sowie der unendlichen Stille vereinnehmen. Mike ist ganz begeistert. Er schiesst Foto um Foto. Alle paar Meter halten wir an und staunen. Das gegenüberliegende Spächthoru spiegelt sich im tiefgrünen Wasser des Mattmarksees. Die ständig wechselnden Lichtverhältnisse produzieren alle paar Sekunden ein neues Bild. Vom Monte Moru her grüsst die Madona, deren Gold ab und zu in der Sonne glänzt. Dahinter erahnen wir, die uns vertraute und heute dennoch weit entrückte Welt des Südens. Spontan entsinne ich mich, unserer Freunde in Macugnaga.
Im Norden erscheint uns der Staudamm, wie eine imaginäre Grenze hinter welcher sich der Rest der Welt mit aller seiner Dramatik und Hektik zurückgezogen hat. Heute Abend werden wir dort wieder auf unsere Lieben treffen. Der aufkommende Wind untermalt die gespenstige Szenerie mit seiner tausend Jahre alten monotonen Melodie. Ich wähne mich wie auf einer Pilgerreise: nur ein paar Kilometer abseits der Zivilisation bewegen wir uns hier in einer absolut archaischen Landschaft, einem riesigen Tempel.
Unsere Körper sind tief verhüllt, doch unsere Seelen sind offen wie selten. Auch wenn sich die Natur heute als unwirsch und abweisend präsentiert, fühle ich mich, eingebetet in die Schöpfung Gottes, ungeheuer geborgen. Die Gewissheit, dass nach dem harten Winter bereits der nächste Frühling wartet, dass das Leben immer weitergeht, stimmt mich versöhnlich und zuversichtlich. Der ewige Zyklus von Leben und Tod nimmt seinen Vorgang. Was kann uns schon geschehen? ……
Es sind solche Erlebnisse in den Bergen, welche es uns ermöglichen zur Ruhe und zur Besinnung zu kommen. Denn wie sagte doch Reinhold Messner nach seinem Alleingang auf den Mont Everest: „Ich wollte hoch hinaufsteigen um tief in mich hinabzusehen“.
Auch wenn die Tour skifahrerisch nicht viel hergegeben hat, hatte keiner von uns das Gefühl, dass er gescheiter im Bett geblieben wäre. Bergsteigen ist halt weit mehr als möglichst viele Höhenmeter in möglichst kurzer Zeit über möglichst schwierige Routen zu bewältigen, Gipfel um Gipfel abzuhaken usw. In diesem Sinne danke ich meinen Begleitern für den besinnlichen Saisonstart.
André Zurbriggen, Saas-Grund